Seiten

Samstag, 10. März 2012

Buch: „110 – Ein Bulle hört zu“ von Cid Jonas Gutenrath (Leseempfehlung)

Aloha Freunde,

Berlinistan ist DIE Stadt, die Dir jederzeit die Möglichkeiten gibt sich mal mit den Möglichkeiten zu beschäftigen. Und wer ab und zu das "Lied vom armen Ich" für sich jammert, der jammert auf sehr hohen Niveau im Elfenbeinturm. Willkommen in der Realität! Kiekste hier;

Notruf 110
"Mach mir jetzt bloß nicht schlapp"


Täglich wählen 3000 Berliner den Notruf. Und sie erzählen den Polizisten 3000 Geschichten. Lustige, dramatische, tragische. Cid Jonas Gutenrath hat die Anrufe zehn Jahre beantwortet. Darüber hat der Polizist ein Buch geschrieben - Auszüge.

Sie rufen an, weil sie überfallen worden sind oder um einen Einbruch zu melden. Weil sie verletzt sind oder in Gefahr. Weil der Nachbar mit der Kettensäge droht, den Laubbaum am Zaun zu fällen. Aber auch, weil sie verzweifelt sind und nicht wissen, wen sie sonst anrufen sollen. Außer 110, den Notruf.

Cid Jonas Gutenrath hat diese Anrufe zehn Jahre lang in der Einsatzzentrale in Tempelhof entgegengenommen. Die Gespräche, die er in dieser Zeit geführt hat, sagen viel über Menschen in Ausnahmesituationen, über die Arbeit der Polizei – und über Berlin aus. Daraus hat Gutenrath jetzt ein Buch gemacht, mit authentischen Dialogen – Auszüge aus drei Gesprächen lesen Sie hier.

„Kommen Sie bitte mal schnell hierher. Hier sind zwei Glatzköpfe, die wollen mich … die wollen mich abstechen!“
„Schwule Sau, jetzt bist du dran!“, höre ich jemanden im Hintergrund grölen.
Dann wieder mein Anrufer: „Das kann doch nicht euer Ernst … Hey, ich hab euch doch gar nichts … Bitte, bitte nicht … aua, auaa, aaaahhhhhhhhhh …“
Dann entfernen sich Schritte, und sein Handy fällt runter. Ich rufe: „Hallo? Hallo, reden Sie mit mir!“
Keine Antwort. Nicht gut. Gar nicht gut, denke ich. Aber ich höre ihn schreien. Schmerzensschreie, soweit ich das einzuschätzen vermag. Möglicherweise ist's aber auch der Schock, schlimm erwischt worden zu sein. …
Ich kriege mit, wie er nach seinem Handy fingert. „Ja! Ja, genau!“, rufe ich sofort. „Geh ran! Hallo, hören Sie mich? Sprechen Sie mit mir!“
Es nestelt, raschelt und schluchzt weiter in der Leitung, bis ich plötzlich ein gequältes „Halloo?“ höre.
„Jau, hallo“, freue ich mich, „hier spricht die Polizei, wie geht es Ihnen?“
„Ich weiß nicht“, jammert er. „Beschissen, glaub ich. Ich blute wie 'n Schwein. Meine ganzen Klamotten sind versaut!“ …
„Wo sind Sie?“
„Im Tiergarten“, sagt er und versucht sich dem Geräusch nach aufzurappeln.
„Wo genau?“, will ich wissen.
„Ich weiß nicht“, heult er.
„Los, wo genau!“ Ich lasse nicht locker.
„Ich weiß doch nicht“, klingt es verzweifelt, „mittendrin! Ich bin vor denen weggelaufen, und dann haben sie mich irgendwann gekriegt. Ich lieg hinter 'nem großen Busch, an einen Baum gelehnt. Alles ist dunkel!“
Scheiße, denke ich, das wird nie was. Der Park ist riesengroß. „Los, sagen Sie mir irgendwas“, fordere ich ihn auf. „Ist ein Weg in der Nähe oder ein Parkausgang? Können Sie Straßenlärm hören, Scheinwerfer oder ein großes Bauwerk sehen? Ist der Baum, an dem Sie lehnen, groß? Ist er weiß? Ist es eine Birke? Irgendetwas!“
Statt mir brauchbare Informationen zu geben, sagt er da: „Du bist süß, wie heißt du?“
„Ich bin nicht süß, ich bin sauer“, fahre ich ihn an, „weil wir zwei hier nichts geregelt kriegen. Jonas heiße ich.“
„Ich bin der Olaf“, stellt er sich vor.
„Fein, Olaf, das bringt uns aber im Moment nicht weiter. Ich muss wissen, wo du bist!“, erkläre ich ihm.
Während ich alle Kapazitäten, die ich kriegen kann, in Richtung Tiergarten zusammenziehe, frage ich ihn nach seinen Verletzungen. …
„Keine Ahnung. Die haben ein paar mal zugestochen. In Bauch und Brust. Alles ist warm und dunkelrot und klebrig. Ich werd hier im Tiergarten verrecken …“
„Wirst du gefälligst nicht!“, verbiete ich ihm und beschäftige ihn mit der Frage: „Kannst du was abdrücken, zuhalten, die Blutung stoppen?“
„Nein, weil ich nicht so viele Hände habe“, gibt er mir langsam zu verstehen.
Ich lasse in der Zwischenzeit bereits nach den Tätern suchen, in der naiven Hoffnung, sie würden uns vielleicht zu ihm führen, und bitte ihn um eine genauere Beschreibung.
„Glatzen halt“, sagt er, „keine Haare und dunkle Klamotten. Ich hab ihnen nichts getan. Nicht mal angequatscht hab ich sie.“ … „Jonas? Mir wird kalt. Ich hab Angst. Bleibst du bei mir?“, bittet er mich.
Ich weiß genau, was er meint, aber weil ich ein sturer Hund bin, beharre ich: „Ich bleibe so lange bei dir, bis wir dich gefunden haben!“
Gleichzeitig tippe ich in meine Tastatur, dass er schlappmacht, und bitte an alle über Funk rauszugeben, sie möchten im Laufschritt suchen. Machen sie wahrscheinlich sowieso schon. Handyortung bisher negativ. Verdammt, ich werde ihn sterben hören …
„Ist es denn so schlimm, dass ich schwul bin?“, will er von mir wissen.
„Isses nich. Es ist wurscht!“ …
Plötzlich höre ich Hundegebell, das schnell lauter wird. „Olaf, hörst du das?“, frage ich.
Ohne direkt darauf zu antworten, stottert er: „Da, da steht ein großer schwarzer Hund vor mir und bellt mich an. Scheiße!“
„Nein, Olaf, das ist einer von uns!!! Alles okay! Der ruft die anderen! Klasse, klasse, klasse!“, platzt es aus mir heraus. … Und während ich von ihm fordere: „Olaf, beiß die Zähne zusammen! Mach mir jetzt bloß nicht schlapp!“, meldet sich auch schon eine Kollegin über sein Handy, die mir bestätigt: „Alles klar, wir haben ihn.“


Montagnacht, 23.44 Uhr. Ich lege meinen Finger auf eines der rot aufleuchtenden Felder im Touchscreen und bin in der Leitung. „Notruf der Berliner Polizei, Gutenrath, guten Abend.“
Dünne Stimme: „Hallo.“
„Ja, Polizei Berlin, hallo.“
Leise, mit fragendem Klang: „Hallo?“
„Ja, hier ist die Polizei, bitte sprechen Sie.“
Schweigen. …
„Wer ist denn da?“
„Tommy.“
„Hallo, Tommy.“
„Hallo“, antwortet er mir. …
„Tommy, was los?“
Zögerlich und nachdenklich kommt:
„Mama is weg.“
„Mama ist weg? Wo ist Mama, arbeiten?“
„Mama ist im Himmel – sagt Papa.“
Ich atme tief durch, stelle meine Stuhllehne zurück und frage: „Tommy, wie alt bist du?“
„Fünf.“
„Wo ist Papa?“
„Schläft.“
Gut, denke ich, er ist nicht allein in der Wohnung. …
„Is Papa lieb?“, frage ich.
„Schon, aber immer müde“, klingt es etwas gelangweilt. Dann kommt ungefragt: „Hab Bauchweh.“
„Du hast Bauchweh? Schlimm?“
„Geht.“
Und dann sprudelt es plötzlich aus ihm raus: „Früher hat mir Mama dann immer den Bauch gestreichelt oder leise gesungen, bis ich eingeschlafen bin … Bis sie krank geworden ist.“
„Bis sie krank wurde?“
„Ja, als sie krank wurde, konnte sie nicht mehr so gut. Da hab ich dann manchmal für sie gesungen oder mit ihr zusammen bunte Kopftücher ausgesucht …“
Scheiße, Krebs, denke ich. …
„Is Mama wirklich im Himmel?“…
„Ja, Tommy, ich glaube, dass deine Mama im Himmel ist. Aber beweisen kann ich's dir nicht, auch wenn ich Polizist bin. Es ist nämlich, leider, noch nie jemand von dort zurückgekommen. Aber dass es diesen Ort dort oben nicht gibt, das kann auch keiner beweisen. Genauso spannend ist aber die Tatsache, dass deine Mama gar nicht wirklich weg ist.“
„Wieso?“, haut er erstaunt raus, und ich ärgere mich ein bisschen über meinen letzten Satz. …
„Du bist also ein Teil von Papa und von Mama, und wenn du dich mal vor den Spiegel stellst, wirst du ganz sicher irgendetwas entdecken, was genauso aussieht wie bei Mama. Deine Nasenspitze, ein Muttermal oder vielleicht irgendetwas an deinen Händen.“
„Jaaaaaa“, poltert er los, „ich hab einen schiefen Zeigefinger, genau wie Mama!“ …
Ich höre ihn schniefen und überlege angestrengt, wie ich den Kurzen wieder auf Spur kriege. …
„Tommy, kennst du den großen Rummel, der gerade in Zehlendorf ist?“
„Ja.“
„Zu dem gehst du am Wochenende mit Papa hin. Und vorher, vorher schreibst du an Mama einen Brief. Papa hilft dir bestimmt dabei.“ …
„Und dann?“, hakt er nach.
„Dann geht ihr zu dem Rummel und kauft einen schönen, großen Luftballon. Einen, von dem du glaubst, dass er Mama auch gefällt. An den bindet ihr dann ganz fest den Brief, sucht euch eine große Wiese und lasst ihn aufsteigen. Mitten in den Himmel!“
„Und das kommt an?“, fragt der kleine Skeptiker.
„Da bin ich ganz sicher“, lüge ich so ehrlich, wie ich nur kann. …
„So, und jetzt gehst du ins Bett, okay?“
„Okay“, antwortet er. (Pause) „Du bist kein Arschloch.“ …
„Wie war das?“
„Mein großer Bruder sagt, ihr seid alles Arschlöcher. Du bist kein Arschloch!“


Vater, Mutter und zwei Kinder befinden sich gemeinsam in der Familiendroschke mitten in der nachmittäglichen Rushhour. Papa fährt. Sie ist völlig aus dem Häuschen:
„Mein Gott, mein Mann flippt hier völlig aus!“
„Definieren Sie ausflippen.“
„Er brüllt rum und droht den Kindern und mir Schläge an!“
„Definieren Sie Schläge.“
Die Antwort hat sich erledigt, denn im Hintergrund höre ich im tiefsten Bassbariton: „Es gibt hier gleich was an 'n Latz, wenn hier nich Ruhe einkehrt, und du, hör auf, mir mit dem Scheißhandy vor der Nase rumzufuchteln, sonst fliegt das Ding aus 'm Fenster!“
„Hören Sie das? Hören Sie das?“, kreischt sie mir ins Ohr.
„Ja“, quittiere ich knapp.
„Wie, ja? Nun tun Sie doch was!“
… Der arme Kerl ist fertig, denke ich und überlege kurz, ob ich ihr nicht als Beifahrerin das Telefonieren während der Fahrt verbieten kann. …
„Gut. Meinen Sie, er redet mit mir?“ „Wird er müssen“, trällert sie triumphierend und gleich darauf, wohl in seine Richtung: „So, jetzt will die Polizei mit dir sprechen. Das hast du nun davon!“
Ich höre ein Reifenquietschen und ihn gleich darauf ungefragt loslegen: „Die Klimaanlage ist im Eimer, die Kinder treiben mich zur Weißglut, und meine Frau nervt mich unentwegt mit bescheuerten Vergleichen mit ihrem Exmann …Ich hatte einen wirklich miserablen Tag im Büro, und das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist, mit einem deutschen Beamten zu sprechen!“ …

„Passen Sie auf: 
Sie fahren an der nächsten Tankstelle raus, marschieren in den Schuppen und greifen sich das teuerste und kälteste Bier, das Sie finden können. Das zischen Sie, nachdem Sie bezahlt haben, versteht sich, in einem Zug vor den Augen Ihrer Frau. Dann eröffnen Sie ihr, dass Sie jetzt fahruntüchtig sind, holen den Verbandskasten – von dem ich doch hoffe, dass Sie ihn dabeihaben –, nehmen sich die Sicherheitsschere und schneiden beide Ärmel Ihres Hemdes bis zur Schulter hoch komplett ab. Das ist gut gegen Achselnässe, befreit die Arme und den Geist! Danach nehmen Sie auf dem Beifahrersitz Platz, schnallen sich an und kurbeln das Fenster bis zum Anschlag runter, wo es bleibt, auch wenn alle drei quaken, dass es zieht. Abschließend eröffnen Sie Ihrer Familie, dass Sie den Familienfernseher verkaufen und den Erlös für eine ultrafiese Tätowierung auf Ihrem Oberarm verwenden, wenn bis nach Hause bloß noch ein Wort gesprochen wird. Wenn das alles erledigt ist, stellen Sie den Radiosender ein, der Ihnen gefällt, und sagen: Los! Alles klar?“

Vom Türsteher zum Polizisten

Person:
Cid Jonas Gutenrath wuchs in Hamburg auf, im dortigen Rotlichtmilieu, wie er sagt. Dort war er später Türsteher, bis er zur Marine ging, als Taucher. Über die Bundesmarine und den Bundesgrenzschutz kam er nach Berlin, wo er erst als Streifenpolizist und dann als Zivilfahnder unterwegs war. Schwerpunkt: Betäubungsmittel und Prostitution. Später ging es weg von der Straße, in die Einsatzzentrale in Tempelhof. Heute ist er in der Polizeihundestaffel. Gutenrath, 45 Jahre alt, wohnt vor den Toren Berlins. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
Anrufe: Gutenrath hat mit Tausenden Menschen telefoniert, einige Gespräche haben auch mal zwei bis drei Stunden gedauert. „Das Spektrum“, sagt er, „ist breit – vom Falschparker bis zur übelsten Tragödie.“ Berlin habe er am Telefon als „durchwachsen, international und spannend“ wahrgenommen.

Buch:
„110 – Ein Bulle hört zu“ von Cid Jonas Gutenrath gibt es seit Freitag im Buchhandel. Es hat 382 Seiten und kostet 14,99 Euro (Ullstein).
und auch auf Amazonien ---> BUCH
Text gefunden hier

Gruß
"Berlinistan" Icke

Tipp für heute:
Wer mal nach Berlinistan kommt, der sollte sich unbedingt die Buslinie 100 merken:

der 100er - vom Alex zum Zoo

http://www.bus100.de/


Bild von hier

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen